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Lieber Michael,
lieber Nils,
die aktuellen Fragen zu anonymen Platten sehe ich eigentlich so merkwürdig nicht, denn auch ein VEB-Betrieb konnte außerhalb des eigenen Verlages bzw. der eigenen Produktlinien Lohnpressungen in kleinen Auflagen anfertigen, von denen im Westen die Teldec in Nortorf, das Presswerk der EMI in Köln, Polygram in Hannover, Tempo in Gor?hesselohe, SWB in Geretsried, WEA in Alsdorf, die nach wie vor aktive Pallas in Diepholz nicht ungerne lebten (bzw. leben). Die Reihe ist alles andere als vollständig, zumal hier auch ein ständiges Kommen und Gehen herrschte:
Man liefert ein Band an, und erhält nach einiger Zeit Anpressung und nach deren Freigabe und einigen Tagen obendrein die fertige Auflage, die dann oftmals und nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nicht über den offiziellen Handel ging, sondern innerhalb eines überschaubaren bis interessierten Personenkreises verschenkt oder verkauft wurde (vgl. auch die Werbeplatten der Arzeneimittelhersteller!).
Es sei daran erinnert, dass heute ein Großteil des Klassik-CD-Marktes außerhalb des Mainstreams so oder fast so läuft.
Die zweite Gruppe regelrecht anonymer bzw. kodiert bis kryptisch beschrifteter Platten sind die der Anpressungen, die schon in historischer Zeit für die Endabnahme nötig waren, auch wenn im Problemfall der bandlosen Schellackzeit natürlich andere Verfahrensweisen griffen als nach dem 2. Weltkrieg mit den revolution?ren Möglichkeiten des Magnetbandes. Mit einem solchen Anpressungsexemplar dürften wir es bei Nils' Glah?-Aufnahme zu tun haben. Idealerweise sollte es diese Platte auch ordentlich etikettiert als kommerzielles Produkt geben. Wenn aber nicht oder wenn in anderer Form, dürfte Nils' Exemplar Anlass zu Beanstandungen seitens Glah?s oder des Orchesters gegeben haben, weshalb sie dann eben nicht 'durchging'.
Dass dies in der frühen Zeit der Schellackplatte auch nicht allzu eng gesehen wurde, wird an Gepflogenheiten deutlich, die namentlich bei unerwartet gut laufenden Blasmusikplatten angewandt wurden, für deren Nachpressungen von der ausgewählten, endgültigen Aufnahme keine hochwertigen Matrizen mehr gefertigt werden konnten, aber auch keine m?ngelfreien Aufahmen für eine neuerliche Galvanik mehr vorlagen. Man bediente sich dann 'einfach' im existierenden, fehlerbehafteten Bestand der Aufnahmesitzungen und brachte diesen ggflls. gar ohne Rückfrage beim Interpreten unter der Nummer der ursprünglich abgenommenen Versionen auf den Markt. Dies holt heute natürlich den einschl?gig forschenden Musikwissenschaftler auf den Plan, der anhand ausgeschiedener Versionen auf den Grund des Ausscheidens ebenso zurückzuschließen versucht, wie er Spieltraditionen und -praktiken analysieren kann, über die die Musiker damals lieber den Mantel des Verschweigens breiteten. Der viel zu früh gestorbene Volksmusikforscher (und begnadete Sammler früher bayerischer Volksmusikaufnahmen seit der Walzenzeit) Andreas Masel machte vor vielen Jahren einmal in einer Vortragsreihe des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege auf diesen Zugang zur ja über weite Strecken nicht notierten Blasmusikpraxis längst vergangener Tage aufmerksam.
Auch Michaels VEB-Deutsche-Schallplatten-Lohnpressung sollte man ggflls. hinsichtlich ihrer Entstehung noch heute zurückverfolgen können.
Solche Klein- und Kleinstauflagen, die in der DDR wahrscheinlich sehr viel später Marktbedeutung erlangten als im Westen, sagen ja unendlich viel mehr über Musikpraxis und MusikVerständnis in einem Kulturraum aus, als die normierenden Moderscheinungen des offiziellen, natürlich nach internationaler Rendite schielenden Profimarktes.
Hans-Joachim |
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